Rückkehr des Geisterfahrer?
Die Völkerwanderung unserer Tage beschäftigt uns hierzulande vor allem im Hinblick auf die inneren Verhältnisse. Aber die innerdeutsche Zeitenwende verändert auch, wie Deutschland international wahrgenommen wird.
Am rechtsbrüchigen, radikalen und einseitigen Handeln der Bundesregierung, das nicht nur Europa befremdet, scheint sich eine neue politische Doktrin zu manifestieren: der Primat einer unbegrenzten, vorwiegend muslimischen Immigrantin jeglicher Motivation über alle Politikbereiche.
Galt etwa die Berücksichtigung polnischer Ängste bisher stets als heilig, werden sie -
beispielsweise von Beata Sydlo und Piotr Glinski formuliert - neuerdings von der Bundesregierung ungewohnt resolut entwertet. Aber nicht nur Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn sind zutiefst irritiert und stellen sich mit der beabsichtigten Blockade der Balkanroute offen gegen die deutsche Regierung. Auch unsere skandinavischen, irischen, britischen, österreichischen, schweizerischen und französischen Nachbarn sowie die Beneluxstaaten fordern eine selektivere Einreisepraxis, welche Europas Kapazität zur Aufnahme echter Asylsuchender langfristig erhält.
Die millionenfache, ungefilterte Ansiedlung von Muslimen mit überwiegend bescheidener Sozialprognose und Parallelgesellschaften mit fundamental unterschiedlichen Werten in einem freiheitlich-individualistischen, aufgeklärt-säkularen Europa, in dem Gewalt kein legitimes Mittel der Konfliktlösung ist, werden in Europa klar abgelehnt. Unterdessen verunsichert Deutschland durch Tendenzen der Selektion und Manipulation relevanter Informationen. Der rumänische Europaparlamentarier und ehemalige BBCJournalist Traian Ungureanu beispielsweise bewertet Angela Merkels Siedlungspolitik als "Katastrophe des Jahrhunderts" und beklagt eine "offizielle Zensur" in Deutschland.
Ross Douthat beschreibt in seinem Artikel "Deutschland am Abgrund" in der New York Times seine Wahrnehmung einer regierungstreuen Meinungssteuerung und rät zum fundamentalen Kurswechsel, um eine "politische Gewalt wie in den Dreißigerjahren" zu verhindern. Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen stellt nicht - wie in deutschen Medien oft zu lesen - den europäischen Geist Dänemarks, Schwedens oder Österreichs in Frage. Vielmehr ist sie Ausdruck eines Schutzbedürfnisses, das wiederum Ausdruck legitimer Angst ist. Von Bratislava bis London, von Riga bis Lissabon findet sich außer der deutschen keine Regierung, die einer proportionalen Verteilung unlimitierter Migrationsströme zustimmt.
Zuletzt bestätigte dies Frankreichs Premierminister Manuel Valls verbunden mit einer engen Obergrenze für Neuaufnahmen in Frankreich. Deutschland ist isoliert - und beharrt eisern. Ein Stil, der Erinnerungen weckt.
Wie immer die innenpolitische Bewertung der Massenansiedlungspolitik der Bundesregierung ausfallen mag, Deutschland sollte ihre Außenwirkung ernst nehmen. Bedenken von Freunden sind wertvolle Korrektive. Der nationale Alleingang bei dieser grundlegenden Weichenstellung für Europa verunsichert unsere Partner, erzeugt Ängste und zerstört Vertrauen. Merkel wäre stattdessen gut beraten, im Konsens zu handeln und die Sichtweisen unserer Nachbarn einzubeziehen. Für eine erleichterte, gesetzlich geregelte, maßvolle, selektive und konstruktive Immigration, sozialen Frieden, das Recht auf Asyl und Weltoffenheit. Gegen einen grundlegenden Kulturwechsel, gegen Gewalt, die Einengung von Freiheitsräumen und die Gefährdung liberaler europäischer Werte durch die beliebige und massenhafte Ansiedlung einer dominanten Kultur fundamental unterschiedlicher Werte.
Unter der Überschrift "Un jour on regrettera l'Europe" schrieb Ahmed Al-Sarraf bereits 2010 im Courrier International: "In ein oder zwei Generationen wird die ganze Welt, an erster Stelle die arabische, Europa - wie es bis dahin war - schmerzlich vermissen. Europa wird dann unter der Wirkung der muslimischen Immigration verwandelt sein. Die Europäer haben allen Grund, sich zu beunruhigen." Zu einer ähnlichen Bewertung kommt Claude Habib in ihrem jüngst in "Le Monde" erschienen Artikel "Les leçons d'un réveillon en Europe", in dem sie auf die brutalen Folgen der Ignoranz der deutschen Politik gegenüber ethisch-kulturellen Inkompatibilitäten hinweist und die Bewahrung der europäischen Freiheitsrechte anmahnt.
Verharrt Merkel in ihrem ideologischen Fanatismus, gleicht Deutschland einmal mehr jenem Irrläufer, der im Verkehrsfunk vor einem Geisterfahrer gewarnt wird und empört ausruft: "Einer? Hunderte!"
Es bleibt unbegreiflich, daß Merkel bereit ist, die Stabilität Europas zu opfern, nachdem sie in der Griechenlandkrise nicht müde wurde, eben diese zu beschwören. Auf unsere Nachbarn wirkt dies unberechenbar und autoritär. Christian Lindner spricht zu Recht von einem ins Chaos gestürzten Europa.
Es wird höchste Zeit für Deutschland, die Fahrbahn zu wechseln. Zurück auf den Kurs Europas. Denn der Primat Europas ist für Deutschland die einzig kluge außenpolitische Doktrin. Europa ist unsere Heimat. Wir haben keine zweite.
Dr. Christoph Dietrich, Berlin, DGLI Bundespräsidiumsmitglied