Impeachment à la Brasileira

oder

- die politischen Folgen des größten Korruptionsskandals in Brasilien -

Der größte Korruptionsskandal in Brasilien, auch bekannt unter dem Namen „Operação Lava Jato“ (Operation Autowäsche), um die halbstaatliche Erdölgesellschaft Petrobras hat nicht nur der Präsidentin Dilma Rousseff Ende August 2016 das Amt gekostet. Er wirft seine Schatten auch auf die nächste Präsidentenwahl im Oktober 2018. Die Affäre hat einen politischen Erdrutsch in Gang gesetzt und Brasilien in eine Krise gestürzt, deren Ende noch nicht absehbar ist.

Neben dem Impeachment–Verfahren hat der Petrobras–Skandal u.a. zu drei Anklagen gegen den früheren Präsidenten Luis Inácio Lula da Silva von der linken PT („Partido dos Trabalhadores“) und zur Inhaftierung des einst mächtigen Führers des Abgeordnetenhauses, Eduardo Cunha, von der Zentrumspartei PMDB („Partido do Movimento Democrático“) im Oktober 2016 geführt. Auch der Nachfolger im Präsidentenamt, Michel Temer, (ebenfalls PMDB), scheint in diesen Skandal verwickelt zu sein.

Operation Lava Jato

Seinen seltsamen Namen verdankt der Prozess einer Tankstelle mit Autowaschanlage in Brasilia, über die seit 2003 regelmäßig Geldübergaben stattfanden. Der dort beschäftigte Geldhändler packte in dem Geldwäscheverfahren gegen ihn im Gegenzug für ein vermindertes Strafmaß umfassend aus. Aufgrund dieser Aussage ermittelt deshalb die Staatsanwaltschaft in Curitiba/Paraná – auch Curitiba-Boys genannt -  seit März 2014 in rund 1400 Verfahren gegen Unternehmer und Politiker aller Parteien wegen Geldwäsche und Bestechung.

Die Präsidentin hatte zwar die Aufsicht und Kontrolle über Petrobras, wurde aber selbst nie der Korruption verdächtigt. Ihr „Fehler“ war die miserable wirtschaftliche Lage, insbesondere während ihrer zweiten Amtszeit, der gewaltige Anstieg der Zahl der Arbeitslosen, der Rückgang ausländischer Investitionen und der Verfall der Rohstoffpreise.

Um die unbeliebte Präsidentin loszuwerden, kündigte Temer als Führer der PMDB Ende März 2016 das Koalitionsbündnis mit der PT auf. Damit verfügten PMDB und andere Parteien über die nötige Stimmenmehrheit für die Einleitung des Amtsenthebungsprozesses. Zuvor versuchte noch der Präsident des Abgeordnetenhauses, Eduardo Cunha, mit Dilma Rousseff einen „Deal“ auszuhandeln. Er versprach, das Verfahren zu stoppen, wenn sie ihrerseits ihm helfe, sein Abgeordnetenmandat zu behalten. Als sie ablehnte, setzte er den Impeachmentprozess in Gang.   

Grundsätzliches zum Impeachment–Verfahren  

Amtsenthebungsverfahren sind traditionell Bestandteil von Präsidialsystemen, die eine Wahl oder Abwahl von Exekutivmitgliedern durch das Parlament nicht vorsehen. Prominentestes Beispiel sind neben Brasilien die USA. Die Verfassung der USA kennt eine Anklage wegen Amtsvergehens gegen den Präsidenten und andere Amtsträger, wenn sie sich des Landesverrats, der Bestechung oder anderer schwerer Vergehen schuldig gemacht haben. Parlamentarische Systeme kennen dagegen keine Impeachment–Prozesse gegen Regierungsmitglieder. Die deutsche Verfassung sieht zwar eine Präsidentenklage gegen den Bundespräsidenten gemäß Artikel 61 Grundgesetz (GG) vor. Sie ist jedoch mit einem Impeachment–Verfahren nicht vergleichbar; denn der Bundespräsident ist nicht Regierungschef, sondern hat als Staatsoberhaupt fast ausschließlich repräsentative Funktionen.

Der einzige legitime Machtwechsel in einem Präsidialsystem erfolgt alle vier Jahre über Wahlen oder über den Rücktritt des Präsidenten. Aber so lange wollten die Gegner der Präsidentin und ihrer Politik nicht warten.

Dilma Rousseff war „eine schwache, aber ehrliche Präsidentin“[1]. Die Väter der brasilianischen Verfassung (CF = Constituição Federal) von 1985 hatten sicher nicht im Sinn, das in Artikel 86 CF vorgesehene Impeachment-Verfahren zu nutzen, um einen schwachen und unliebsamen Präsidenten loszuwerden. Die Vorschrift sollte die Nation vielmehr vor Verbrechern im höchsten Präsidentenamt schützen. Haushaltsmanipulationen, wie sie auch unter Rousseffs Vorgängern üblich waren, schwebten den Vätern der Verfassung wohl kaum als überzeugende Begründung für die Entfernung aus dem Präsidentenamt vor.

Das Impeachment–Verfahren gegen Dilma Rousseff

Am 31. August 2016 hat der brasilianische Senat unter Vorsitz des Obersten Richters des „Supremo Tribunal Federal“ mit 61 zu 20 Stimmen Dilma Rousseff als Präsidentin Brasiliens abgesetzt.  

Damit endete scheinbar der monatelange politische Machtkampf in Brasilien. Doch Ruhe wird sobald nicht einkehren. Das Verfahren wurde zwar formal korrekt durchgeführt, aber es basierte auf fragwürdigen und zweifelhaften Begründungen. Die vorgelegten Beweise für ein von der Präsidentin begangenes „crime de responsabilidade“ („Verbrechen bzw. Vergehen gegen die Amtspflichten des Präsidenten“) waren recht dünn.  

Nach Artikel 85, einziger Paragraph der Verfassung, müssten diese Amtspflichtverletzungen an sich in einem Spezialgesetz näher definiert werden. Ein solches Gesetz wurde nach 1985, also nach Inkrafttreten der geltenden Verfassung, (noch) nicht verabschiedet. Der Senat behalf sich mit Artikel 10 eines früheren Spezialgesetzes aus dem Jahre 1950, dem „Lei Nr. 1.079/50“ vom 10.04.1950, zuletzt geändert im Jahre 2000 [2]. Darin werden die Verstöße gegen das Haushaltsgesetz („lei orcamentaria“), das in Artikel 85 VI der Verfassung zu den „crimes de responsabilidade“ zählt, im Einzelnen aufgelistet.

Gegen Dilma Rousseff wurden rund 35 Anträge auf Amtsenthebung gestellt. Anfang Dezember 2015 nahm Eduardo Cunha, der Präsident des Unterhauses, den Antrag der bekannten brasilianischen Juristen Helio Bicudo, Miguel Reale Júnior und Janaína Conceição Paschoal an. Dieser stützte sich auf den Vorwurf, die Präsidentin habe 2014 einen gesetzwidrigen Haushalt vorgelegt, um sich ihre Wiederwahl in 2014 zu sichern. Sie habe den Haushalt durch Zweckentfremdung von Geldern geschönt, in dem sie z.B. ohne Zustimmung des Parlaments Kredite aufgenommen oder Kredite verspätet zurückgezahlt habe, um Sozialprogramme der PT bedienen zu können.

Der Senat beschloss am 12. Mai 2016 mit 2/3-Mehrheit zunächst die formale Eröffnung des Impeachment–Verfahrens. Gleichzeitig suspendierte er die Präsidentin gemäß Art. 86 § 2 CF für 180 Tage. Als Interimspräsident übernahm gemäß Art. 79 CF Vizepräsident Michel Temer die Amtsgeschäfte.

Zwar hat der Senat Dilma Rouseff Ende August mit 2/3-Mehrheit endgültig ihres Amtes enthoben, sich jedoch in einer separaten Abstimmung gegen die vorgesehene Sanktion - Verlust der politischen Rechte für 8 Jahre - entschieden. Diese Zweiteilung der Entscheidung über die Amtsenthebung ist möglicherweise verfassungswidrig, auf jeden Fall ist sie verräterisch: Offenbar war sich der Senat der Fragwürdigkeit seiner Entscheidung bewusst und hat sich deshalb für eine mildere Version („impeachment soft“) [3] der Amtsenthebung entschieden. Der neue Präsident Temer soll sie als „Peinlichkeit“ bezeichnet haben.[4]

Dilma Rousseff steht es nunmehr frei, sich im Wahljahr 2018 zur Senatorin ihres Heimatstaates Rio Grande do Sul wählen zu lassen. Theoretisch könnte sie sich erneut als Präsidentschaftskandidatin ihrer Partei aufstellen lassen.  

Im Gegensatz zu ihr kann Michel Temer zwar als ihr verfassungsgemäßer Nachfolger bis zu den nächsten Wahlen das Land regieren. 2018 kann er aber weder bei den Präsidentschaftswahlen, noch für ein anderes Wahlamt antreten.

Grund: Temer wurde im Mai 2016 in São Paulo rechtskräftig wegen illegaler Wahlkampfspenden zur Zahlung einer Geldbuße verurteilt. Wegen dieser Verurteilung hat Michel Temer keine „Ficha Limpa“[5] (sinngemäß „reine Weste“)  mehr und ist deshalb 8 Jahre lang nicht mehr wählbar.

Das erste Impeachment–Verfahren in 1992

Kenner der jüngeren brasilianischen Geschichte fühlen sich automatisch an das Impeachment–Verfahren von 1992 gegen Präsident Collor de Mello erinnert.

Fernando Collor de Mello hatte in 1989 die ersten Direktwahlen seit der Militärdiktatur mit knappem Vorsprung vor Luiz Inácio Lula da Silva (PT) für die Partido Trabalhista Brasileiro (PTB) gewonnen. Wegen Korruptionsvorwürfen leitete das Abgeordnetenhaus gegen ihn ein Impeachment-Verfahren ein und suspendierte ihn am 29. September 1992 gemäß Art. 86 § 2 der Verfassung für 180 Tage. Interimspräsident wurde Vizepräsident Itamar Franco von der PMDB.

Collor de Mello trat am 29.12.1992, einen Tag vor der endgültigen Entscheidung des Senats, zurück. Erwartungsgemäß entschied der Senat am 30.12.1992 mit 2/3-Mehrheit für die Amtsenthebung Collors. Darüber hinaus aberkannte er ihm seine politischen Rechte für 8 Jahre. Collor hatte das Präsidentenamt nur 932 Tage inne. Nachfolger wurde bis zu den nächsten Wahlen 1994 Vizepräsident Itamar Franco. Collor de Mello ist seit 2004 Senator für den Bundesstaat Alagoas. Er nahm auch als „Richter“ an dem Impeachment-Verfahren gegen Dilma Rousseff teil. Ironischerweise gehörte er auch zu den Befürwortern ihrer Absetzung.

Ist Dilma Rousseff Opfer einer politischen Verschwörung?

Von Beginn an haben die Präsidentin und ihre Anhänger das Impeachment–Verfahren als verfassungswidrigen Angriff auf die junge brasilianische Demokratie verurteilt und als „golpe“ (Staatsstreich) gebrandmarkt. Das Parlament wiederum sah in dem Absetzungsverfahren das einzige Mittel, einen aus seiner Sicht notwendigen Machtwechsel herbeizuführen.[6] Es sei darum gegangen, eine Regierung abzusetzen, die maßgeblich zur wirtschaftlichen Krise beigetragen habe und federführend beim Aufbau des Korruptionsnetzwerks gewesen sei.[7]

Im Gegensatz zu Ministern der Regierung und Abgeordneten der PT,  PMDB und PSDB (Partido da Social Democracia Brasil) hat Dilma Rousseff jedoch Schmiergelder weder angenommen noch zugesagt.

Unter Juristen war die Verfassungsmäßigkeit des Impeachment-Verfahrens von Anfang an umstritten.  Die angesehene brasilianische Anwaltsvereinigung (OAB = Ordem dos Advogados do Brasil) unterstützte das Verfahren. In ihrem Antrag vom März 2016 berief sie sich auf verschiedene Haushaltsmanipulationen („pedaladas fiscais“)[8] und warf der Präsidentin außerdem vor, durch Ernennung des Expräsidenten Lula zum Kabinettschef die Ermittlungen im Korruptionsverfahren „Operation Lava Jato“ aktiv behindert zu haben[9]. Durch Verstöße gegen das Haushaltsgesetz habe sie ein „crime de responsabilidade“ gemäß Artikel 85 VI der Verfassung begangen[10].

Große, doch vergebliche Unterstützung erhielt die Präsidentin von einem privaten internationalen Tribunal, dem „Tribunal Internacional pela Democracia no Brasil“, in Erinnerung an die Internationalen Russell-Tribunale[11]. Das erste Tribunal fand auf Initiative des englischen Nobelpreisträgers Bertrand Russell unter Vorsitz von Jean-Paul Sartre im Jahre 1966 gegen den Vietnamkrieg statt.

Das jüngste „Internationale Tribunal“ tagte im Juli diesen Jahres in Rio de Janeiro und hatte zum Ziel, mithilfe namhafter Juristen aus Europa, den USA und Lateinamerika die Rechtmäßigkeit des Impeachment-Verfahrens unter die Lupe zu nehmen. Das Tribunal kam zu dem Ergebnis, bei dem Verfahren gegen Dilma Rousseff handle es sich um einen Staatsstreich. Es verstoße sowohl gegen die brasilianische Verfassung als auch gegen die „Amerikanische Menschenrechtskonvention“[12] von 1969 und gegen den „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ von 1966.

Die Präsidentin habe in keiner Weise ihre Verantwortung als Präsidentin missachtet, sie habe auch nicht gegen das Haushaltsgesetz verstoßen. Ihre Handlungen stellten keinen Angriff auf die Verfassung oder auf die Fundamente des brasilianischen Staates dar. Vielmehr sei das Verfahren gegen die Präsidentin ein Staatsstreich gegen den Rechtstaat und müsse daher als null und nichtig betrachtet werden[13]. Die Entscheidung des Tribunals hatte nur deklaratorischen Charakter, einen Teil dieser Argumentation wiederholte die Verteidigung der Präsidentin, - ebenfalls vergebens -  auch in ihrem Schlussplädoyer vor der Entscheidung des Senats

Wer gewinnt das Spiel um die Macht?

Eduardo Cunha, der einst mächtige Präsident des Abgeordnetenhauses und Hauptinitiator des Impeachment–Verfahrens gegen Dilma Rousseff wurde im Mai 2016 vom Obersten Gerichtshof, also bereits Monate vor der Entscheidung des Senats, wegen verschiedener strafrechtlicher Vorwürfe (Meineid und Bestechlichkeit) von seinem Posten als Parlamentspräsident suspendiert. Er soll auf einem Schweizer Konto Schmiergelder in Millionenhöhe gebunkert und das Parlament im Hinblick auf sein Schweizer Konto belogen haben. Bereits seit 2015 ermittelt die Schweizer Bundesanwaltschaft gegen ihn.[14] Im Zuge dieser Ermittlungen wurden alle Gelder auf seinem Schweizer Konto eingefroren. Mitte September 2016 entzog ihm dann auch das Unterhaus mit großer Mehrheit sein Abgeordnetenmandat. Damit verlor er gleichzeitig seine Immunität. Inzwischen wurde er aufgrund des Haftbefehls des Richters Sérgio Moro aus Curitiba/Paraná, am 19.10.2016 wegen Fluchtgefahr verhaftet. Cunha besitzt sowohl die italienische als auch die brasilianische Staatsangehörigkeit. Außerdem verfügt er über ausreichende Finanzmittel, um sich ins Ausland absetzen zu können. Alles Gründe, die auch in Deutschland, insbesondere wegen der Schwere der Vorwürfe, eine baldige Entlassung aus der Untersuchungshaft als unwahrscheinlich erscheinen lassen. Cunha hat gedroht, weitere Insiderkenntnisse zum Petrobras-Skandal zu offenbaren. Der Kongress, der gerade die unbeliebte Präsidentin losgeworden ist, muss seine Drohung ernst nehmen: Denn 1/3 der 594 Abgeordneten des Kongresses stehen unter dem Verdacht sich bereichert zu haben. Die „Operation Lava Jato“ ist deshalb auch für die PMDB die größte politische Gefahr.

Michel Temer, der Nachfolger von Dilma Rousseff, ist seit 15 Jahren Parteivorsitzender der PMDB, die seit 1994 an allen brasilianischen Regierungen beteiligt war. Von 2003 bis März 2016 war sie Bündnispartner der PT, ehe sie die Koalition aufkündigte, um im Bündnis mit anderen Parteien das Impeachment-Verfahren in Gang zusetzen.

Als „running mate„ von Dilma Rousseff gewann er gemeinsam mit ihr die Präsidentschaftswahlen in 2010 und 2014. Als Vizepräsident ist er deshalb gemäß Art. 79 CF der „natürliche“ Nachfolger der Präsidentin, wenn diese „verhindert ist“. Die Behauptung, „Michel Temer sei von niemanden gewählt worden“[15], ist daher unzutreffend.

Vielleicht wäre es gerecht, wenn er das Schicksal der Präsidentin hätte teilen müssen, da er an den ihr im Amtsenthebungsverfahren vorgeworfenen „Crimes“ aktiv mitgewirkt hat. Ein Verfahren gegen den Vizepräsidenten ist jedoch – anders als in den USA - in der brasilianischen Verfassung nicht vorgesehen.   

Noch am Tag der Amtsenthebung, am 31. August 2016, wurde Michel Temer als neuer Präsident Brasiliens vereidigt. Temer ist mit der Mission angetreten, Brasilien aus der Krise zu holen. Dies ist eine Herkulesaufgabe. Er muss die Wirtschaft wieder in Gang bringen und die Beschäftigungszahlen erhöhen. Er kann, wie bereits erwähnt, bei den Wahlen 2018 nicht als Präsidentschaftskandidat antreten. Er muss also kaum politische Rücksichten nehmen. Falls er die Krise in den Griff bekommt, ist ein Wahlsieg seiner Partei in 2018 nicht ausgeschlossen.

Kann Lula in 2018 wieder als Kandidat antreten?

Luiz Inácio Lula da Silva, Lula, wie er allgemein genannt wird, galt lange als Lichtgestalt der Linken und Brasiliens. Er gewann - nach drei vergeblichen Versuchen - zweimal für seine linke Arbeiterpartei die Präsidentschaftswahlen und war von 2003 bis Ende 2010 Präsident Brasiliens. Er ist bis heute auch der faktische Führer der PT.

Inzwischen sind mehrere Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Korruption anhängig. Im September 2016 hat die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben. Ihm werden im Zusammenhang mit einer Wohnung im noblen Küstenort Guarujá nahe São Paulo, Steuerdelikte und Geldwäsche vorgeworfen. Er soll auch die Ermittlungen in dem Korruptionsskandal um Petrobras behindert zu haben. Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft soll er als „Pate“ hinter den kriminellen Machenschaften im Petrobras–Skandal stecken,[16] um mithilfe dieser Gelder die Macht der PT zu sichern. Die Verteidigung von Lula weist die Vorwürfe als politisch motiviert zurück. Die Anklagen dienten nur dem Zweck, eine weitere Präsidentschaft von Lula zu verhindern. Dafür wäre allerdings eine rechtskräftige Verurteilung Lulas Voraussetzung. Eine solche wird nach meiner Einschätzung noch lange auf sich warten lassen.

In der Absicht, die Strafverfahren in die Länge zu ziehen, hat die Verteidigung im Oktober 2016 beim UN – Menschenrechtsrat in Genf vorgetragen, Brasilien habe Lulas Grundrechte verletzt.[17] U.a. behauptet sie, Lula sei am im März 2016 ohne Rechtsgrund festgenommen und während der laufenden Ermittlungen rechtswidrig telefonisch überwacht worden. Schließlich verbreitete sie das Gerücht, der

UN-Menschenrechtsrat würde jetzt offiziell „die groben Verletzungen durch den Staat Brasilien“, die täglich gegen Lula begangen werden würden, begleiten.[18]

Auch wenn sich der Menschenrechtsrat in Genf wohl kaum inhaltlich mit dem Antrag der Verteidigung befassen wird, könnte die Verzögerungstaktik Erfolg haben mit der Konsequenz, dass Lula im Gegensatz zu seinen Widersachern von der PMDB, Temer und Cunha, im Oktober 2018 erneut als Präsidentschaftskandidat der PT antreten könnte. Allerdings ist Lula schon jetzt gesundheitlich angeschlagen und seine Partei verliert wegen des Korruptionsskandals aber auch wegen der schwachen Bilanz der Regierung von Dilma Rousseff immer mehr Anhänger.

Das zeigte sich jetzt bei den Kommunalwahlen im Oktober: „Die PT erlitt eine katastrophale Niederlage, sie verlor fast 2/3 der Bürgermeisterposten, darunter auch jenen in São Paulo“, berichtet die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe am 7. November 2016.[19] Dagegen konnte die PMDB wie auch die PSDB ihre Position halten.

Das bedeutet, die Chancen der PMDB die Parlaments- und Präsidentenwahl in 2018 zu gewinnen, sind - im Gegensatz zur PT -  ganz erheblich gestiegen.

 

Berlin, den 9. November 2016

Lilli Löbsack

Strafverteidigerin in Berlin , Vizepräsidentin der DGLI,

Mitglied der Deutsch-Brasilianischen Juristenvereinigung (DBJV)